Look for the light!
„Go! Go! Go“, brüllen die Männer in Uniform. Die Läufe ihrer Maschinengewehre deuten hinaus aufs offene Meer. Auf einen dunklen, schwankenden Fleck im gleißenden Mondlicht, das auf der glatten Wasseroberfläche zerläuft wie ausgelassene Butter. „Go! Go! Go!“ Dürre Gestalten huschen über den Strand. Sie tragen Daunenjacken, Kaftane, Ronaldo-Trikots. Karim ist ins Stolpern geraten. Er hat einen Schuh verloren. Der Sand ist noch warm. „Go! Go! Go!“ Karim rappelt sich wieder auf. Alles rennt durcheinander. Wasser platscht. Die Schritte werden schwerer. Da ist das Boot! Karim kann sein Glück kaum fassen. Da ist tatsächlich ein Boot! Wie die Männer gesagt haben. Karim hat schon nicht mehr daran geglaubt. Vier Monate ist er unterwegs. Immer haben sie gesagt, es kommt ein Boot. Und jetzt ist es da. Aber ist es nicht viel zu klein? Es hat bereits Schlagseite. Karim dreht sich um. All die Menschen, die noch hinter ihm sind, all die verschwitzten Gesichter. Sie scheinen genauso enttäuscht wie er.
Ein Schiffsmotor heult auf. Ohne zu zögern wirft Karim sein Bündel ins Boot und klettert hinterher. Er hilft einem Jungen, an Bord zu kommen. Dann dessen Vater. Karim reicht ihm seine Hand. Aber der Vater schüttelt den Kopf. „Half Price.“ Er deutet auf seinen Jungen. „Go! Go! Go!“ Die Männer mit den Gewehren scheuchen ihn weg, zurück an Land. Das Boot setzt sich in Bewegung. Der Junge streckt seine Arme nach seinem Vater aus. Schreit wie ein Tier. Er klettert auf den Rand des Schiffes, will zurück ins schwarze Wasser springen. Aber Karim hält ihn zurück. Hält ihn ganz fest. Der Junge windet sich in seinem Arm, tritt ihm gegen das Schienbein. Spar dir deine Kraft, denkt Karim. Du wirst sie noch brauchen. Erst als der Strand außer Sichtweite ist, lässt er den Jungen los.
Kurz vor Tagesanbruch gehen die Männer mit den Gewehren von Bord. Ein dröhnendes Motorboot holt sie ab. „Look for the light!“ sagen sie und lachen. Die Uniformen sind ihnen viel zu groß. „Europe“, rufen sie immer wieder und zeigen mit ihren Gewehren in unterschiedliche Richtungen. „Look for the light!“ An Bord gibt es daraufhin einen Tumult. Alle reden aufgeregt durcheinander. Arabisch, Französisch, Englisch. Panik klingt in jeder Sprache gleich. Erst nach einer halben Stunde haben sich alle beruhigt. Haben sich wieder hingesetzt, halten Ausschau nach dem Licht. Auch Karim. Sein Onkel hat ihm von Europa erzählt. Von dem Licht. Man sehe es schon von Weitem, sagt er jetzt zu dem Jungen neben ihm. Es bringe den schwarzen Himmel zum Leuchten. Karim ist sich sicher, dass der Junge ihn versteht. Auch wenn er bloß dasitzt und vor sich hinstarrt.
Endlich geht die Sonne auf. Das Boot ist in einem noch schlechteren Zustand, als Karim in der Nacht befürchtet hat. Der Boden ist durchgerostet. Eintretendes Wasser läuft nicht schnell genug ab. Daher auch die Schlagseite. Außerdem sind viel zu viele Menschen an Bord. Dicht an dicht hocken sie auf dem feuchten Untergrund. Familien, Frauen mit ihren Kindern. Karim blickt zu dem Jungen und bietet ihm einen Schluck Wasser an.
Ein kahlköpfiger Mann behauptet, das Boot steuern zu können. Die Richtung zu kennen. Eine Gruppe von Männern hat sich formiert, um ihn zu beschützen. Sie nennen ihn „den Kapitän“. Karim beschließt, auch dem Jungen einen Namen zu geben, ihn Mojo zu nennen. Vielleicht bricht das sein eisernes Schweigen. Für die anderen Passagiere ist der Junge unsichtbar. Die Frauen wiegen ihre eigenen Kinder im Arm. Teilen ihre Kekse in winzige Krümel. Rationieren das Wasser. Die Männer brüsten sich mit ihren Zukunftsplänen. Nach Deutschland oder nach Frankreich? Einen BMW oder lieber einen Mercedes? Mit solchen Fragen halten sie sich bei Laune. Der Junge hingegen hat noch kein einziges Wort gesagt. Hat noch nicht einmal von seinem Fladenbrot abgebissen.
Wind kommt auf. Gegen Abend schieben sich dunkle Wolken vor den Mond. Das Boot beginnt zu schaukeln. Wer nicht schwimmen kann, bekommt Panik. Wer seekrank wird, erbricht das Wenige, das er zu sich genommen hat. Die Wellen ziehen und zerren an dem alten Kahn. Immer wieder spritzt etwas Gischt über die Bordwand. Besorgt blicken die Menschen hinauf in den Himmel. Wo ist Europa? Wo ist das Licht, von dem die Männer mit den Gewehren gesprochen haben? Das der Onkel damals gesehen hat. Karim greift nach der Hand des Jungen. Ob er das auch spüre, fragt er. Je höher die Wellen schlagen, desto schneller seien sie in Europa. Er werde schon sehen. Bald hätten sie es geschafft. Der Junge reagiert nicht. Immerhin hat er inzwischen einen Schluck Wasser getrunken.
Es ist Nacht, als der Motor des Schiffes verstummt. Von einem Moment zum anderen ist es still. Nur das Rauschen der Wellen ist zu hören. Einige wachen davon auf. Dann die aufgebrachten Schreie, das Weinen der Frauen. Diese Betrüger! Karim sieht zu dem Jungen. Das könne nur bedeuten, dass sie bald da seien, sagt er. Um den Jungen zu beruhigen. Zwei Tage, haben die Männer mit den Gewehren gesagt, vielleicht drei. Die Bedingungen seien günstig. Die See ruhig. Dass sie kein Benzin mehr haben, sei ein gutes Zeichen, sagt Karim und nimmt den Jungen in den Arm. Sicher sähen sie noch vor dem Morgengrauen das Licht.
Am nächsten Tag ist die Situation angespannt. Die Sonne brennt. Die letzten Kekse sind zerbröselt, das Wasser wird knapp. Gruppen haben sich gebildet. Die Araber stehen zusammen, im mittleren Teil des Schiffes. Misstrauisch beäugen sie die Schwarzen, die deutlich in der Überzahl sind. Es gibt erste Rempeleien. Streit um Essen, um Wasser, darum, seine Beine auszustrecken. Es wird behauptet, vorn im Boot habe jemand eine Machete. Karim zieht Mojo näher zu sich heran. Warum sollte jemand eine Machete mit nach Europa nehmen?
Die Nächte sind am Schlimmsten. Kein Platz, kein Schlaf. Und auch kein Licht weit und breit. Stattdessen nur Dunkelheit, Durst, Angst, Babygeschrei und dieser furchtbare Gestank. Niemand traut sich noch, seine Notdurft ins Wasser zu verrichten. Schon gar nicht nachts. Jeder hat Angst, über Bord gestoßen zu werden. Manchmal sind Schreie im Wasser zu hören. Jeden Morgen werden Menschen vermisst. Habt ihr Eyong gesehen? Farid? Raoul? Immer werden andere beschuldigt, die Vorräte unter sich aufgeteilt zu haben. Es wird beschimpft, gedroht, Rache geschworen. Karim macht sich große Sorgen um Mojo. Er isst nichts. Das Fladenbrot vertrocknet in seinen Händen. Das ist nicht gut. Vor allem die, die selbst nichts mehr haben, starren den Jungen mit unverhohlener Wut an.
Jeden Morgen geht eine Gruppe von Männern umher. Einer von ihnen hat eine Machete. Sie beugen ihre Köpfe über die Schlafenden. Über die, die sich nicht mehr bewegen. Sie werden an Armen und Beinen gepackt und ins Meer geworfen. Andere springen freiwillig ins Wasser. Zermürbt von der Hitze, von der Angst, von dem ewigen Geschaukel, stehen sie auf und klettern auf die Bordwand. Niemand versucht sie aufzuhalten. Es geht ganz schnell. Die meisten können nicht mal schwimmen. Ein Fisch, ruft jemand. Dann noch jemand. Dann alle. Ein Fisch! Hier im Boot! Verrückt vor Hunger und Durst starren alle in das trübe Wasser, das ihnen bereits bis zu den Knöcheln reicht. Auch Karim sieht nach unten, glaubt, eine silbrige Haut zwischen seinen Füßen zu entdecken. Zum Greifen nah. Aber es ist nur eine Plastiktüte. Er fragt sich, was die anderen mit ihm gemacht hätten, wenn er den Fisch gefangen hätte. Sie haben ihn schon einmal geschlagen und fast über Bord geworfen. Wegen eines vertrockneten Fladenbrots.
Nach fast einer Woche hat auch der Kapitän genug. In einem unbeobachteten Moment muss er seinen Beschützern entwischt sein. Plötzlich steht er neben Karim. Seine Gebete klingen wie ein Kinderreim, als er seinen massigen Körper ins Wasser gleiten lässt. Der kahle Kopf versinkt wie eine zentnerschwere Last. Die Männer, die ihn tagelang bedrängt haben, die ihm verbieten wollten, zu schlafen, geben sich gegenseitig die Schuld. Eine Frau drängt an ihnen vorbei, ruft dem Mann hinterher, fleht ihn an, zurückzukommen, ihrem Kind zuliebe. Vornüber gebeugt hält sie das schreiende Baby über die Tiefe. Ihre lackierten Zehen suchen verzweifelt nach Halt.
Karim presst die letzten Tropfen Urin in seine Flasche. Das wird kaum reichen, weder für ihn, noch für Mojo. Er bekommt Angst. Ist er womöglich schon zu schwach, um sich über den Rand des Schiffs zu hieven? Um selbst zu entscheiden, was mit ihm geschieht? Um nicht verspeist zu werden von den anderen? Darüber wurde schon geredet. Er hat es selbst gehört. Die Beine zuerst. Aber was würde dann aus Mojo werden? Müsste er nicht zuerst den Jungen davor bewahren? Dürfte er das? Könnte er das?
Hör mir gut zu, Mojo! Die Männer haben gelogen. Dein Vater hat gelogen. Ich habe gelogen. Es gibt gar kein Licht. Kein Europa. Nicht für uns. Wir werden alle sterben. Bitte sag etwas! Karim versucht sich aufzurichten. Seine Hände umklammern das Ende der Bordwand. Er will sich hochziehen, schafft es aber nicht. Sein Körper sinkt gegen den Stahl. Der Tod kündigt sich an. Mit einem tiefen Brummen. Es kommt von ganz weit her und wird immer lauter. So laut, dass es den Bootsstahl zum Vibrieren bringt. So laut, dass Karim seine eigenen Gebete nicht mehr versteht. Und plötzlich ist da ein Licht. Ein greller Strahl, direkt über ihm. Kein hell erleuchteter Himmel, wie der Onkel gesagt hat. Aber immerhin ein Licht. Weitere Lichter werden folgen. Und weitere Männer mit Gewehren, die „Go! Go! Go!“ brüllen. Aber da hat Karim bereits das Bewusstsein verloren.
Karim erwacht im Krankenhaus. In Europa, das weiß er sofort. Alles ist hell erleuchtet. Weiß, neu und sauber. Eine blonde Schwester steht an seinem Bett. Sie notiert etwas auf einem Klemmbrett. Als sie bemerkt, dass er wach ist, lächelt sie. Sein Sohn wolle ihn sehen, sagt sie. Karim sieht sie fragend an. Die junge Frau probiert es in einer anderen Sprache. Sie lächelt erneut. Ihr Sohn, wiederholt sie. Mojo.
© 2015
Der Text ist erschienen in: Fremdsein – 15 Geschichten über ein Gefühl, das verbindet, 2016